02-Resorti-Interview-Hinduismus © Eva Becker

Interview mit Dr. Eva Becker, Müll-Archäologin

Wenn Archäologen wie Dr. Eva Becker auf Spurensuche gehen, ist das Objekt der Begierde nur in seltenen Fällen die Nofretete – höchstens, wenn ein Sammler ein Modell davon gerade entsorgt hat. Denn Frau Becker aus Berlin ist Deutschlands einzige Müll-Archäologin. Ihr Blick in Abfallbehälter oder auf Deponien erfasst nicht nur das dort drin Entsorgte – sondern auch das, was darin fehlt. Mit RESORTI spricht sie über Spektren ihres Schaffensfeldes.

Nein, eine zweite Nofretete werde sie vermutlich nicht finden, leitet Frau Becker das Gespräch ein. „Aber einer meiner interessantesten Funde war ein indisches Relief in Berlin-Moabit“, sagt sie. Das obere Bild zeigt den besonderen Fund (siehe dazu auch den Artikel „Großstadtaltäre“). Alle Links zu den im Interview angeführten Artikeln auf Eva Beckers Blog finden Sie unter den weiterführenden Informationen!

Interview mit der einzigen Müll-Archäologin Deutschlands

Guten Tag Frau Dr. Becker, vielen Dank für ein paar freie Minuten Ihrer Zeit. Wo befinden Sie sich gerade, und an welchem Projekt arbeiten Sie aktuell?

Aktuell bereite ich mich auf müll-archäologische Workshops im Bildungsprogramm der Basar-Messe in Berlin vor und beobachte nach wie vor meine städtische Umgebung. Zurzeit habe ich einen Stromkasten im Fokus, an dem ich täglich vorbeikomme.

Seit ein paar Wochen werden dort permanent Dinge abgestellt, sodass sich täglich, manchmal auch stündlich das Arrangement ändert. Sollte irgendwann dieser von mir so genannte „gedeckte Tisch“ von der Straßenreinigung abgeräumt werden, werde ich eine Auswertung der Fotos vornehmen. Ich bin schon sehr gespannt, was sich so alles verändert hat und ob sich vielleicht ein Muster erkennen lässt.

03-Resorti-Interview-Schuh auf Stromkasten © Eva Becker

Schuh auf einem Stromkasten, bereit abgeholt zu werden

Sie sind eine der wenigen, wenn nicht die einzige Müll-Archäologin Deutschlands. Wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?

Vorweg: Ich bin Archäologin. Müll-Archäologie gibt es in Deutschland nicht, es ist keine universitäre Disziplin, auch kein Teilgebiet.

Vor einigen Jahren las ich das Buch „Nikolski“ von Nicolas Dickner. Der Protagonist musste sich mit Müll-Archäologie beschäftigen. Diese Disziplin innerhalb der Archäologie kannte ich nicht, sodass ich im Internet danach suchte.

Ich entdeckte, dass in den 1970iger Jahren an einer Universität in Arizona ein Projekt initiiert wurde, das unter der Leitung von William Rathjes stand und sich mit den Hinterlassenschaften gegenwärtigen Mülls sowie den daraus abzuleitenden Resultaten beschäftigte.

Welche Ergebnisse förderte das Projekt zu Tage?

Ich möchte gerne drei Ergebnisse nennen:

  1. Die amerikanischen Müll-Archäologen haben erkannt, dass Papier entgegen der landläufigen Meinung auf Mülldeponien nicht zerfällt, sondern eher die Tendenz hat, zu mumifizieren. Diese Tatsache hängt mit der Temperatur in der Deponie zusammen. Sobald die Temperatur in einer Deponie unter zwölf Grad Celsius fällt, stellt Papier seinen Verfallsprozess ein.
  1. Das nicht zerfallene Papier kam den amerikanischen Müll-Archäologen gerade recht, konnte man doch die mumifizierten Zeitungen oder Telefonbücher zur Datierung heranziehen. So erkannten die Müll-Archäologen zum zweiten, dass in einer Zeit, als es in Amerika hieß, dass Rindfleisch knapp sei, die Menschen mehr Rindfleisch weggeworfen hatten, als in einer Zeit, in welcher Rindfleisch keine Mangelware war. Sie werden sich jetzt fragen, woran dies lag. Die Antwort ist sehr einfach: die Menschen haben gehamstert und dann die Vorräte doch nicht gegessen, sondern irgendwann weggeworfen.
  1. Spannend fand ich auch die Zusammenarbeit mit einem Marktforschungsinstitut. Dieses hatte Bewohner eines Viertels bezüglich ihrer Essgewohnheiten um Auskunft gebeten. Die Menschen gaben mehrheitlich vor, sich sehr gesund mit Obst und Gemüse zu ernähren. Dann schlug die Stunde der Müll-Archäologen, die sich die Mülleimer der befragten Haushalte vornahmen. Und siehe da, das angegammelte Obst und Gemüse lag neben leeren Chipstüten.

Ich denke, dass diese Beispiele sehr schön zeigen, wozu sich die Methoden der Archäologie einsetzen lassen, vor allem im Hier und Heute: Denn wo ist der Unterschied zwischen einem Artefakt, welches vor 2.000 Jahren weggeworfen wurde und einem Artefakt, das erst gestern seinen Platz auf der Straße fand?

05-Resorti-Interview-Kleidercontainer © Eva Becker

Kleidercontainer

Wie grenzen Sie den Begriff „Müll“ dabei für sich ab? Zählen auch Dinge dazu, die wir in Altkleidercontainer oder Aschenbecher entsorgen?

Da würde ich eine Präzisierung vornhemen. Der (Alt-)Kleidercontainer dient dazu, dass ich mich von Dingen trenne, die mir vielleicht nicht mehr gefallen, nicht mehr modisch, zu klein oder zu groß geworden sind. Diese Dinge werfe ich im Sinne von wertlos gewordenen Dingen nicht weg, sondern gebe sie weiter, weshalb ich die Bezeichnung „Altkleidercontainer“ für nicht angebracht halte. Mir gefällt das Wort „Kleidercontainer“ besser. Was durch die Container-Betreiber jeweils daraus gemacht wird, ist eine andere Sache.

Anders der Aschenbecher. Dieser oft durchgestylte Gegenstand ist nur dazu da, etwas wirklich wertlos Gewordenes in sich aufzunehmen, vor allem im häuslichen Umfeld. Brednikova und Tkač formulieren in dem Kapitel Die Orte des Mülls:

„Der streng abgesonderte Müllplatz, einschließlich des Abfalls in festen Behältern, definiert das umliegende Territorium als sauber. Weshalb das Unsaubere, wenn es schon sichtbar ist, wenigstens präsentabel sein muß. Aschenbecher, Abfallbehälter, Mülleimer – das sind integrale Bestandteile städtischen Wohnungsinterieurs und Behördenmobiliars.“

[Ol’ga Brednikov, Ol’ga Tkač, „Schmutziges“ Dorf und „vermüllte“ Stadt : Ein Beitrag zur Anthropologie des Mülls, in: Berliner Debatte Initial 15 (2004) 1, S. 107-114]

Mich interessiert, wie Menschen sich ihrer Zigarettenkippen in „freier Wildbahn“ entledigen. (Anm. d. Red. siehe dazu auch Frau Beckers Artikel „Räucherwerk“).

Was macht eine Müll-Archäologin alles?

06-Resorti-Interview-Eisbär © Eva Becker

„Dinge werden häufig sehr exponiert abgelegt, sodass andere sie gut erkennen können.“

Welche Tätigkeit nimmt den Großteil Ihrer Arbeit ein?

Angefangen habe ich damit, dass ich Fotos von Müll in meiner Umgebung gemacht habe. Mittlerweile verfüge ich über mehr als 7.000 Müll-Fotos, anhand derer sich wunderbar Muster erkennen lassen, wie Menschen Gegenstände im öffentlichen Raum entsorgen. Zum Beispiel fällt auf, dass Dinge häufig sehr exponiert abgelegt werden, sodass sie von anderen Menschen gut erkannt werden können. Warum dies so ist, können sicher Psychologen beantworten. Auch die soziologische „Broken-Windows-Theorie“ lässt sich in Bezug auf weggeworfene Dinge im Stadtbild gut anwenden: Liegt irgendwo ein Stück Müll, so kann dies schnell zu einem Müllhaufen ausarten.

In Berlin habe ich bereits an vielen Schulen müll-archäologische Projekte und Lehrerweiterbildungen durchgeführt und Vorträge gehalten. Schön wäre es, wenn sich mehr Menschen für die Müll-Archäologie interessieren würden. Alle Welt redet über Abfallvermeidung und Recycling, aber so lange wir unser eigenes Verhalten nicht überprüfen, werden wir unser Verhalten auch nicht ändern.

Die einzige Kultur, die es sich leistet, Geschirr wegzuwerfen

07-Resorti-Interview-Fahrradkorb © Eva Becker

„Welche Gesellschaft in der Vergangenheit konnte sich erlauben, Geschirr nur ein einziges Mal zu benutzen und es dann wegzuwerfen?“

Lassen Sie uns über Ihre Beobachtungen auf Ihren Spaziergängen sprechen. Was hat Sie in letzter Zeit am meisten verblüfft?

An dem Ort, wo ich meine Feldstudien betreibe (gleichzeitig auch die angeblich hip(p)ste Stadt Deutschlands), verblüffte mich eine bestimmte Art von Verpackungsmüll. Einer, der darauf hindeutet, dass gegessen oder getrunken wurde: das Zauberwort heißt „to go“.

Es führte mich zu der Überlegung, welchen Wert gemeinsames Essen in unserer Gesellschaft (noch) hat. In allen Kulturen und zu allen Zeiten hatte gemeinsames Essen einen hohen Stellenwert. Das christliche Abendmahl und das muslimische Fastenbrechen sind zwei Beispiele dafür. Was hat sich gesellschaftlich oder kulturell verändert, dass wir unsere Mahlzeiten immer häufiger im Gehen und vermehrt auf der Straße einnehmen?

Ist dies aber nicht auch ein typisches Stadtphänomen?

Es gibt einen Unterschied im Müllverhalten zwischen Stadt und Land. Während eines Vortrages in einem Gymnasium einer kleinen sachsen-anhaltinischen Stadt, die Schüler kamen vorwiegend aus den umliegenden Dörfern, wurde ich gefragt, ob das Foto eines Fahrradkorbes, gefüllt mit to-go-Artikeln, gestellt wäre.

Keines meiner Fotos ist gestellt – archäologisch gesprochen sind alle meine Müll-Artefakte in situ fotografiert. Auf dem Land wird es kaum die Möglichkeit geben, sich im Dorfladen, falls es noch einen gibt, einen Becher Kaffee zum Mitnehmen zu kaufen, sodass auch die Entsorgung desselbigen entfällt. Die Anonymisierung der Großstadt hat sicher einen großen Einfluss auf das Müllverhalten. Ich bin mir sicher, wenn man im Dorf einen Kaffee zum Mitnehmen kaufen kann, so würde kaum jemand auf die Idee kommen, diesen in einem fremden Fahrradkorb zu entsorgen.

Was kommt in Städten noch erschwerend hinzu?

All die Gegenstände, die im Gehen zum Essen gebraucht werden, sind entweder aus Plastik oder Papier, sodass man sich ihrer schnell wieder entledigen kann, weil sie ja angeblich für eine zweite oder dritte Benutzung nicht mehr taugen. Die Mengen, die sich an manchen Orten finden lassen, sind ein Bild für den Ausdruck „Wegwerfgesellschaft“.

Als Archäologin habe ich mich gefragt, welche Gesellschaft in der Vergangenheit es sich erlauben konnte, Geschirr – und nichts anderes sind Pappbecher, Papierteller und Plastikbesteck – nur ein einziges Mal zu benutzen und es dann wegzuwerfen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir eine sehr reiche Gesellschaft sein müssen, die sich diesen Luxus erlauben kann. Das impliziert auch einen sehr sorglosen Umgang mit Ressourcen, weshalb die Müll-Archäologie oft auch nicht vom Umweltschutz zu trennen ist.

Während eines Vortrages erklärte mir ein 15jähriger Schüler, dass die Plastikgabel, die er im Schnellrestaurant bekommt, keinen Wert habe. Später kamen wir auf Erdöl zu sprechen, welches den Ausgangsstoff für Plastik darstellt. Ich fragte die Schüler, ob sie einen anderen Begriff oder eine andere Bezeichnung für Erdöl kennen. Die meisten kennen den Ausdruck „Schwarzes Gold“.

Legt man diesen Ausdruck für die Plastikgabel des Schnellrestaurants zugrunde, dann muss gefragt werden, welche Gabel denn die wertvollere ist: die Metallgabel in unserem Küchenschrank oder die Gabel aus Plastik, die ach so gedankenlos tausende Male am Tage weggeworfen wird? Susanne Hausstein hat dies wunderbar in ihrem „Schwarze-Gold-Barren“ zum Ausdruck gebracht.

Von der Stein-, Bronze- und Eisenzeit in die „Papier-Plastik-Zeit“

08-Resorti-Interview-Plastiktüte © Eva Becker

„Es ist der sorglose Umgang mit dem Material und nicht das Material selbst, was es suspekt macht.“

Von Ihnen stammt der Begriff, dass wir in der „Papier-Plastik-Zeit“ leben…

In der Archäologie entstand im 19. Jahrhundert eine Periodisierung der Zeiten anhand des Artefaktmaterials. Die Begriffe „Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit“ gehen auf den dänischen Archäologen Christan Jürgensen Thomson zurück. Als Archäologin habe ich mich natürlich gefragt, in welcher Zeit wir heute leben, wenn man ein Material zugrunde legen soll, um diese Zeit zu benennen. Da ich nicht zwischen Papier und Plastik trennen bzw. mich entscheiden konnte, ist diese gemischte Materialgruppe entstanden.

Wie bekannt, ist die Plastiktüte in aller Munde. Aber fragen sie einmal die Leute, ob sie wissen, aus welchem Rohstoff Plastik(-tüten) hergestellt werden. Sie werden die abenteuerlichsten Rohstoffe genannt bekommen, unter anderem auch „Plastik“(!).

Weder an Papier noch an Plastik ist übrigens etwas Schlechtes. Plastik hat unser Leben sehr komfortabel gestaltet. Die Shampooflasche aus Plastik kann beim Herunterfallen auf die Fliesen im Badezimmer nicht mehr zerscherben und viele Menschen freuen sich, Getränke in Plastikflaschen nach Hause tragen zu können, sind diese doch viel leichter als eine Glasflasche. Aber was ist mit der Plastiktüte, deren Lebensdauer von der Supermarktkasse zur Wohnung durchschnittlich 21 Minuten beträgt. Zu Hause wandert die Plastiktüte vermutlich in eine Schublade, wo schon mehrere Schwestern lagern. Irgendwann klemmt die Schublade und die Plastiktüte wird als Mülltüte verwendet. Ist sie gefüllt, landet sich vermutlich in der Restmülltonne und wird verbrannt. Damit wäre ich wieder beim Thema „Schwarzes Gold“.

Die wenigsten Menschen machen sich Gedanken darüber, wie lange eine Plastiktüte braucht, um sich zu zersetzen. Wir denken immer noch, dass das, was wir wegwerfen, auch vergammelt. Die Konsequenzen, die eine unsachgemäß entsorgte Plastiktüte nach sich ziehen, bedenken oder kennen die wenigsten: Fische und Vögel fressen Plastikgegenstände und verenden am vollen Magen. Vögel bauen regendichte Nester mit Plastik, was heißt, die Brut ersäuft. Wie gesagt, es ist der sorglose Umgang mit dem Material und nicht das Material selbst, was es suspekt macht.

„Unser“ Wort Stadtmobiliar findet großen Anklang

11-Resorti-Interview-Matratzen © Eva Becker

„Ihr Ausdruck Stadtmobiliar gefällt mir ausgezeichnet.“

Denken Sie, dass das Littering-Problem in Deutschland an nicht ausreichendem Stadtmobiliar festzumachen ist? Oder spielen hier auch psychologische Dinge eine Rolle?

Gegenfrage: Was verstehen Sie unter „Stadtmobiliar“? Papierkörbe und Mülleimer oder auch Stromkästen, Bänke, Bushaltestellen, Laternenpfähle? Ein Blick in unsere Stadtlandschaft zeigt, dass alles, auf dem etwas abgestellt werden kann, auch dafür genutzt wird. Ich denke, dass die Reinigungsbetriebe der Städte schon genügend Papierkörbe und Mülleimer aufgestellt haben, aber manchmal ist es ein bisschen schwierig, ein System zu erkennen. (Anm. d. Red. siehe Frau Beckers Artikel „Bequemlichkeit“).

Jedes Stadtmobiliar eignet sich hervorragend zur Abfallbeseitigung. Der Kreativität sind überhaupt keine Grenzen gesetzt (Anm. d. Red. siehe Frau Beckers Artikel „Der Reiz des Unerlaubten“). Sicher spielt Bequemlichkeit dabei eine große Rolle. Niemand will auch nur zwanzig Schritte mit einem leeren Pappbecher in den Händen durch die Straßen wandeln, da stellt man ihn doch lieber auf einem Stromkasten ab. Da ist der Becher gut sichtbar für den Straßenfeger, der ihn dann nur noch einsammeln muss.

Ihr Ausdruck Stadtmobilar ist mir neu, gefällt mir aber ausgezeichnet. In der Regel bezeichnet „Mobiliar“ alle Einrichtungsgegenstände innerhalb einer Wohnung. Und diese Gegenstände finden sich sehr häufig im Straßenbild, sodass ihre Wortwahl „Stadtmobiliar“ eine ganz interessante Bedeutung für mich bekommt, lassen sich doch alle erdenklichen Einrichtungsgegenstände auch im Berliner Stadtbild wiederfinden. Werden diese Gegenstände dadurch zu „Stadtmobiliar“? Matratzen sind in dieser Hinsicht sehr beliebt, aber auch ganze Wohnzimmergarnituren.

Internationale Perspektiven der Müll-Archäologie

Welche Erfahrungswerte könnte man aus anderen Ländern auf der Erde einsammeln? Wer könnte uns warum ein Vorbild sein?

Die Frage ist sehr schwer zu beantworten, da Müll ein globales Problem ist. Wo es Menschen gibt, gibt es auch Abfall. Das war schon in der Steinzeit der Fall, als der Mensch vor allem aus Feuersteinknollen Geräte herstellte. Die Steine mussten zurechtgeschlagen werden, und dabei entstanden nicht weiter verwertbare Abschläge, die heute zum Beispiel einen Ort als Lagerplatz der frühen Steinzeitjäger ausweisen.

Während eines Türkei-Urlaubs sah ich eine Obsthändlerin, die frische Feigen in einen mit Feigenblättern ausstaffierten alten Karton legte und diesen zum Verkauf anbot. Mir hat dieses Bild so gut gefallen, denn die Feigenblätter werden irgendwann verrotten und zu Humus werden. In unseren Supermärkten gibt es Feigen nur in dünnen Papierummantelungen oder in dünnen Plastiktüten.

Auf zentralasiatischen Basaren werden die gewünschten Gewürze in Tüten verpackt. Die Tüten stellt der Händler immer aus alten Papierblättern her. Dank der EU haben wir so viele Hygienevorschriften, dass ich mich immer wieder frage, wie die Menschheit ohne diese hat überleben können. Milchkannen werden nicht mehr gebraucht und der alten Frau, die am Fischstand ihre Heringe in einer mitgebrachten Glasschüssel nach Hause tragen möchte, wird dies aus hygienischen Gründen versagt.

09-Resorti-Interview-Biotonne © Eva Becker

„Ich finde es sehr paradox, dass Dinge nur hergestellt werden, um in der Mülltonne zu landen.“

In einem meiner Workshops ist unser Frühstück ein Thema. Es wird eingekauft und dann ein Frühstückstisch gedeckt, auf dem Lebensmittel in der Verpackung nichts zu suchen haben. Auf einem zweiten Tisch werden die Verpackungen präsentiert. Der Volumenunterschied beider Tische ist schon immens. Wer macht sich schon die Mühe und visualisiert seinen Wocheneinkauf? Ich finde es sehr paradox, dass Dinge – in diesem Fall Verpackung – nur hergestellt werden, um in der Mülltonne zu landen.

Welche Strategien zur Abfallvermeidung haben Sie?

13-Resorti-Interview-zerscherbte Flasche © Eva Becker

Zerscherbte Flasche neben einem überfüllten Abfallbehälter

Was sind Ihrer Meinung nach weitere Verbesserungsvorschläge zur Reduzierung des hierzulande anfallenden Unrats?

Diese Fragen fallen eigentlich nicht in mein Ressort, auch wenn ich der Ansicht bin, dass das Zauberwort der Zukunft „Abfallvermeidung“ heißt.

Ein Wort aus müll-archäologischer Sicht zum Thema „Pfand“. Ein befreundeter Iraner, der mit seiner Mutter Berlin besuchte, machte bereits am Flughafen die Entdeckung, dass es Menschen im reichen Deutschland gibt, die in Mülltonnen wühlen. Er fragte sich, was es damit auf sich habe. Der Herr suchte natürlich im Mülleimer nach Pfandflaschen. Jemand Fremdes die Bedeutung des Wortes „Pfandflasche“ beizubringen, ist gar nicht so einfach.

In Berlin haben abends und nachts viele Partygänger eine Bierpfandflasche dabei. Stellt sich nur irgendwann die Frage, wohin damit? Sehr uncool, eine Tasche für die leeren Bierflaschen dabei zu haben und diese dann auch noch die ganze Nacht mit sich herum zu schleppen. Also, die Flaschen in der Regel neben öffentlichen Mülleimern abstellen.

In Köln hat ein Designer einen Pfandring entwickelt, in Berlin-Spandau habe ich einen öffentlichen Pfandkorb gesehen. Ich frage mich, warum sich die Stadtväter und -mütter so schwer mit so kleinen innovativen Ideen tun. Am Goethe-Gymnasium in Berlin haben Schüler einen Pfandkorb entwickelt, der aus einem Pfandkasten bestand, der am Laternenpfahl befestigt wurde. Eine kleine, aber feine Idee.

Flaschenmeer

„Ich frage mich, warum sich die Stadtväter und -mütter so schwer mit kleinen innovativen Ideen tun.“

Welche Ziele haben Sie sich für die Zukunft gesetzt?

Im Augenblick scheint es mir wichtig für die Müll-Archäologie eine Öffentlichkeit zu erreichen, um aufzuzeigen, welches Potenzial in der etwas anderen Art der Sichtweise auf unseren heutigen Müll steckt.

Meine bisherigen beruflichen müll-archäologischen Aktivitäten fanden im Bildungsbereich statt. Leider ist das Thema Müll so negativ besetzt, dass die meisten Menschen sich nicht damit auseinandersetzen wollen, obwohl jeder von uns täglich mehrere Kilogramm Müll produziert. Uncool ist dieses Thema nicht nur bei den meisten Schülern, sondern auch bei manch Erwachsenen. In der VHS habe ich Kurse mit Frau Hausstein angeboten, die aber kein Interesse fanden. Erst als wir einen kostenlosen Workshop anboten, gab es Teilnehmer. Es ist sehr schade, dass kulturpolitische Themen nichts kosten dürfen, um das Interesse zu wecken oder extrem schlecht bezahlt werden.

Ich habe es erlebt, dass Menschen, die ich mit dem Thema der Müll-Archäologie erreicht habe, ihr eigenes Müllverhalten zu reflektieren begannen und daraus für sich Konsequenzen zogen. Der Umgang mit Müll hat auch viel mit Kompromissen zu tun, die man eingehen muss, denn ohne Müll funktioniert unser tägliches Leben nicht.

04-Resorti-Interview-Tassen auf Fensterbank © Eva Becker

„Erst als wir einen kostenlosen Workshop anboten, gab es Teilnehmer. Es ist sehr schade, dass kulturpolitische Themen nichts kosten dürfen, um das Interesse zu wecken oder extrem schlecht bezahlt werden.“

Ihre Faszination an der Müll-Archäologie in drei Stichpunkten…?

  • Ich beschäftige mich mit den Dingen, die auf der Straße liegen: Ich muss keinen Boden öffnen, um die darunterliegenden Bodendenkmäler mit ihren Artefakten zu finden. Die Dinge, die ich auf der Straße finde, sind wie ein Zeitfenster auf einem archäologischen Bodendenkmal, wenn auch ein flüchtiges und nicht ein konserviertes.
  • Würde man ein großes, müll-archäologisches Projekt in einem Stadtteil initiieren, so würde man mit Sicherheit alle Dinge finden, die unser heutiges Leben bestimmen, vom Autoreifen über die weggeworfene Diskette und das benutzte Kondom bis hin zur Zahnbürste. Brächte man die Gegenstände noch in Bezug zu ihren Örtlichkeiten, so ließen sich sehr interessante Ergebnisse für Stadtplaner, Marktforscher, Soziologen etc. pp daraus ableiten. Vor noch gar nicht so langer Zeit wurde Müll in Gruben vergraben, heute wird er gut sichtbar auf der Straße abgelegt und bietet sich somit für viele unterschiedliche Studien an.
  • Auch ist es an der Zeit, dass ich meine Fotos auswerte und anfange, Artikel zu schreiben. Bereits der Blog zeigt, welches wissenschaftliche Potenzial meine Fotos bieten, auch wenn die dort vorgestellten Artikel häufig mit einem Augenzwinkern geschrieben sind.

Liebe Frau Dr. Becker, wir danken Ihnen für dieses Interview!

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